In eigener Sache
Als CDO der Universität und als Forscherin im Bereich des E-Learning seit nunmehr über 20 Jahren nehme ich die aktuelle Entwicklung mit großem Schrecken wahr. Das, was mich erschreckt, ist folgendes:
- E-Learning ist nach wie vor ein Forschungsgebiet. Bereits im Kontext der Diskussion über Digitalisierung wurde zuweilen so getan, als sei E-Learning Standard und eine eierlegende Wollmilchsau, mit der sich alle Bildungsprobleme lösen lassen. Dies ist bei weitem nicht der Fall. E-Learning bietet interessante, auch neue Möglichkeiten, kann die Präsenzlehre aber niemals ersetzen.
- E-Learning ist keine eigene Didaktik sondern im Gegenteil ein didaktisch-methodisches Konzept, welches digitale Medien, spezifische Methoden und Werkzeuge einbezieht. Zuerst kommt also IMMER die didaktische Überlegung. Dann erst die Auswahl der passenden Methode und dann erst die Bestimmung der geeigneten Medien und Werkzeuge.
- In Anbetracht der aktuellen Krise ist eine wahre Werkzeugschlacht ausgebrochen, mit der verzweifelt versucht wird, traditionelle hochschulische Lehre durch traditionelle hochschulische Lehre auf digitalen Endgeräten zu ersetzen. Dieser Ansatz ist schon von der Idee her zum Scheitern verurteilt, siehe Punkt 1 und 2.
Sehr verwundert und mit einer gewissen Resignation nehme ich daher die aktuellen Versuche wahr, Vorlesungen in Präsenz durch Vorlesungen in Zoom zu ersetzen, herkömmliche Vorlesungen mit Camtasia aufzuzeichnen und online verfügbar zu machen … – um nur ein paar Methoden und die zugehörigen Tools zu nennen. Warum versuchen wir verzweifelt, klassische Lehrformate hochzuhalten in einem Semester, das sich um etliche Wochen verzögert, in dem Prüfungsformen nicht geklärt sind und während noch völlig unklar ist, ob es überhaupt zu einem sinnvollen Studienangebot kommen kann. Warum versuchen wir überhaupt, die zurzeit verbotene Präsenz durch digitale Werkzeuge zu ersetzen?
Wir sind eine Universität! Wir lehren und forschen seit 600 Jahren. Warum wenden wir uns den Angeboten großer amerikanischer Firmen zu, die fragwürdige Datenschutzbestimmungen haben und mit der aktuellen Krise noch mehr Geld verdienen?
Wir sollten stattdessen überlegen, was uns als Universität ausmacht! Freiheit der Forschung und Freiheit der Lehre sind zwei unserer größten Güter.
Freiheit der Lehre (nicht zu verwechseln mit Freiheit der Prüfung) könnten wir in der gegenwärtigen Lage auch so verstehen, dass wir, die Lehrenden, die Verantwortung für unsere Angebote selbst übernehmen. Und dass wir die Studierenden sinnvoll einbeziehen, sie teilhaben lassen an universitärer Forschung und Lehre. Warum machen wir dieses Semester nicht für uns alle zu etwas besonderem?
Wir könnten dieses Semester zu einem wahren Digital-Semester machen. Lassen Sie uns die aktuelle Krise zum Anlass nehmen, aus der Perspektive unserer jeweiligen Fachdisziplin die Krise zu diskutieren, gesellschaftliche / wirtschaftliche / wissenschaftliche / ethische /... Auswirkungen zu analysieren, interdisziplinäre Bezüge herzustellen und gemeinsam neue Forschungsfragen zu entwickeln! Wie könnte das aussehen? Gruppen von Dozenten könnten sich bestimmten Themen im interdisziplinären digitalen Diskurs mit den Studierenden widmen. Die methodische Strukturierung des Diskurses und der Analysen obliegt den Lehrenden, Lernprozess und Lernergebnisse sind Ergebnis der Kreativität und der Möglichkeiten der Gemeinschaft von Lehrenden und Lernenden. Als technische Werkzeuge könnten E-Mail, Chats, Foren oder Wikis zum Einsatz kommen. Die Themen können gemischten Ursprungs sein – sowohl Studierende könnten freie Themen auswählen, als auch Angeboten von Dozenten folgen. Eine Nebenaufgabe wäre, zu dokumentieren, wie man sich dem Gruppenprozess in der digitalen Welt gewidmet hätte. Das Ganze endet mit einer Abschlusskonferenz, an der alle hochschulweit teilnehmen... wenn die Welt dann wieder normal funktioniert. Freiheit der eigenen wissenschaftlichen Meinungsbildung ist übrigens auch ein Recht der Studierenden im Sinne der akademischen Freiheit.
Was hätten wir zu verlieren?
Rostock, den 27.03.2020, gez: Prof. Dr. Ing. Alke Martens